1920: Groß-Berlin entsteht (1)

Plakat von Käthe Kollwitz 1912. Foto: gemeinfrei/Archiv Ulrich Horb

Plakat von Käthe Kollwitz 1912. Foto: gemeinfrei/Archiv Ulrich Horb

Es war eine wegweisende Entscheidung, die die Preußische Landesversammlung am 27. April 1920 traf. Mit knapper Mehrheit wurde ein Gesetz angenommen, das eine „neue Stadtgemeinde Berlin“ formte. Mit dem alten Kern von Berlin wurden sieben Nachbarstädte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke vereint. Noch heute profitiert Berlin von dieser Entscheidung, was Stadtentwicklung, Verkehrsverbindungen, Naherholung oder Wirtschaftsansiedlungen angeht.

Dem Beschluss zur Bildung Groß-Berlins waren langjährige Auseinandersetzungen vorausgegangen. Im alten Stadtzentrum, im Wesentlichen bestehend aus Mitte, Moabit, Wedding, Prenzlauer Tor, Friedrichshain und Halleschem Tor, gab es im 19. Jahrhundert zahlreiche neue Industrieansiedlungen und einen gewaltigen Zuzug an Arbeitskräften. Lag die Bevölkerungszahl um 1800 noch bei rund 173.000, so erreichte sie 1858 bereits fast 490.000, kletterte 1880 dann auf 1,122 Millionen und zehn Jahre später auf 1,579 Millionen.

Spekulanten sorgten für steigende Baulandpreise in Berlin. Enge Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen entstanden, düstere Armenquartiere. In Stube und Küche wohnten fünf, sechs Personen, Toiletten befanden sich auf dem Hof. Die rasante Entwicklung erfasste auch das Berliner Umland, die Häuserzeilen Berlins und der umliegenden Ortschaften rückten dichter aneinander, eine Abstimmung mit den vielen selbständigen Städten und Landkreisen erwies sich als immer schwieriger. Berlin entwickelte sich in einem engen Korsett zur Metropole.

1860 hatte die Staatsregierung Alt-Berlin durch Kabinettsorder bereits mit einigen angrenzenden Gebieten wie dem Wedding, dem Luisenbad, Teilen Alt-Schönebergs oder Tempelhofs, vereint. Vorausgegangen waren langwierige Verhandlungen, die Stadt Berlin hatte mit Blick auf die anfallenden Erschließungskosten eher gezögert. Eine weitere Ausdehnung des Berliner Stadtgebietes wurde in den folgenden Jahren kritisch gesehen, die zentrale Stadtverwaltung sollte nicht überfordert werden, argumentierte die preußische Staatsregierung 1875, als ergebnislos ein Gesetzentwurf zur Schaffung einer Provinz Berlin debattiert wurde.

1891 forderte der Oberpräsident der Provinz Brandenburg von Achenbach namens der preußischen Regierung vom Berliner Magistrat einen Vorschlag zur „Einverleibung der Berliner Vorortsgemeinden“. Eine Deputation der Berliner Stadtverordnetenversammlung empfahl zunächst nur kleinere Erweiterungen, der Magistrat zeigte sich noch zurückhaltender. Um nicht nach kurzer Zeit wieder vor einer ähnlichen Situation zu stehen, wurde Berlin 1893 vom Oberpräsidenten eine weitreichende Gebietserweiterung nahegelegt, die u.a. Charlottenburg einschließen sollte. Während die Stadtverordneten schließlich eine erhebliche Ausweitung des Stadtgebietes bis nach Reinickendorf und Weißensee befürworteten, zog sich der Magistrat auf seine weitgehend ablehnende Haltung zurück. Die Verhandlungen wurden nach fünf Jahren ergebnislos abgebrochen.

Danach wandelten sich die Haltungen. Während der Magistrat sich einer Erweiterung gegenüber aufgeschlossener zeigte, trug die preußische Staatsregierung ihren Teil dazu bei, das Wachstum Berlins und den damit möglichen politischen Einfluss der sozialdemokratischen Hochburg zu begrenzen. Gestärkt wurden die Nachbarn im Umland: Schöneberg erhielt im April 1898 das Stadtrecht, Rixdorf – das spätere Neukölln – im darauf folgenden Jahr, Wilmersdorf wurde 1906 Stadt, Lichtenberg 1907. Charlottenburg besaß bereits seit 1705 Stadtrechte. Vor allem in den westlich von Berlin gelegenen Städten und Gemeinden hatte sich ein zahlungskräftiges Bürgertum angesiedelt, das anders als in Berlin für sprudelnde Steuereinnahmen sorgte und von geringeren Steuersätzen profitierte, oft aber in Berlin arbeitete.

Die unterschiedlichen Interessen zwischen Berlin und den Vororten zeigten sich in der Praxis immer wieder: Berlin nutzte den Tegeler See als Trinkwasserreservoir, Reinickendorf und Tegel nutzen ihn als Kloake. Unterschiedliche Steuersätze, verschiedenste Straßenbahngesellschaften mit ihren jeweiligen Tarifen, 43 verschiedene Gas-, 17 Wasser- und 15 Elektrizitätswerke im Großraum, keine einheitlichen Bauordnungen, kein Finanzausgleich zwischen ärmeren Gegenden und reicheren – die Probleme im Großraum Berlin wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer deutlicher. Als der Berliner Magistrat 1902 mit einigen Umlandgemeinden Verhandlungen über einen Zusammenschluss aufnahm, verhinderte die preußische Staatsregierung eine Annäherung.

Oberbürgermeister Martin Kirschner brachte die Probleme 1906 in einer Denkschrift an den Preußischen Innenminister zu Papier. Er beklagte die Konkurrenz der Gemeinden und Städte im Umland und die unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen.

In Berlin gab es inzwischen eine starke Bewegung, die sich für die Einbeziehung des Umlandes in ein Groß-Berlin aussprach. Eine weitreichende Lösung war noch nicht mehrheitsfähig, aber die Preußische Staatsregierung legte 1911 einen Gesetzentwurf zur Schaffung eines Zweckverbandes vor, in dem sich Berlin und die Nachbarstädte in festgelegten Fragen, darunter Verkehr, Bauplanung und Freiflächen, miteinander abstimmen sollten. Es trat am 1. April 1912 in Kraft. Im Zweckverband arbeiteten Berlin, Spandau, Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, Neukölln, Lichtenberg sowie die Kreise Niederbarnim und Teltow zusammen.

Da kein Mitglied des Zweckverbandes in der Verbandsversammlung mehr als 40 Prozent der Stimmen haben durfte, war Berlin unterrepräsentiert, musste aber regelmäßig mehr als 55 Prozent des Jahressteuersolls des Verbandes entrichten.

Erst mit den politischen Veränderungen am Ende des 1. Weltkriegs kam in die Debatte um Groß-Berlin wieder Bewegung.
(wird fortgesetzt)

Quellen:
Wie vor 70 Jahren Groß-Berlin entstand, Andreas Splanemann, Berliner Forum 3/90

Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin, von Paul Hirsch, Buchhandlung Vorwärts 1920

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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