Mit Neugier und mitunter auch Verwunderung blickt der französische Zeichner Charles Huard bei seinem Berlinbesuch 1906 auf die Stadt. Berlin wächst in atemberaubendem Tempo, Huard lernt eine Stadt im Umbruch kennen. „Berlin, wie ich es sah“ sind seine Eindrücke überschrieben, die 1907 auf Französisch erschienen.
Dass es bis 1999 dauerte, ehe der Reisebericht ins Deutsche übersetzt wurde, könnte mit den zahlreichen doch recht abschätzigen Bemerkungen und Beschreibungen zu tun haben, die die rund hundert Federzeichnungen von Berliner Sehenswürdigkeiten und Typen begleiten. Der Band erschien in Frankreich als zweiter einer Reihe von Reisebeschreibungen, die mit New York begannen und mit London fortgesetzt wurden. Als Skizzenbuch eines „immer vergnüglichen Künstlers“ wurde das Werk angekündigt.
Der Karikaturist Huard hat in seinen Zeichnungen treffsicher Situationen und Straßenszenen eingefangen und zahlreiche Porträts typischer Bürgerinnen und Bürger geschaffen. In seinen Texten kann er nur wenig Positives über die Stadt entdecken. Und wenn, dann wird es sogleich durch neue Erkenntnisse verdrängt. So entbehrt schon die Anreise nach Berlin für Huard „jeglichen Reizes“. Da müsste dann eigentlich der erste Anblick der Stadt positiv ausfallen. „Doch die Ernüchterung folgt schnell, und schon ein einstündiger Spaziergang, bei dem man sich dreißig Mal verlaufen hat, genügt, um einen ersten Eindruck von dieser Stadt zu gewinnen, den man nie wieder revidiert: Berlin ist neu, sauber und ohne Charakter, viel zu neu und selbst neuer als die amerikanischen Städte, auch als Chicago und damit als die einzige Stadt, mit der es, zumindest was das rasante Tempo seiner Entwicklung angeht, verglichen werden kann.“
Huard nimmt sich Zeit für die Stadt. Er beschreibt eine Ordnung und Pedanterie, die er bis hin zum Kinderspiel wahrnimmt, eine Ehrfurcht vor Uniformen und deren Vielfalt. Deutschem Essen und Getränken kann er wenig abgewinnen, auch wenn, so seine Beobachtung, die Berlinerinnen und Berliner Unmengen verzehren. Einige Museen findet er beachtenswert, aber immer wieder trauert er Paris nach, wenn er die Stadt an der Spree durchstreift.
Auch wenn Huard in seinen Charakterisierungen mitunter über das Ziel hinausschießt – es ist eine geistreiche Auseinandersetzung, die er anstößt und ein gekonnter malerischer Blick in das alte Berlin.
Berlin wie ich es sah, Reisebilder von der Jahrhundertwende, Text und Zeichnungen von Charles Huard, 190 S., Berlin 1999